Wellie

Das Erdwerk Wellie liegt inmitten der norddeutschen Tiefebene im Urstromtal der Weser. Nur 4 km nordöstlich (in Sichtweite) schiebt sich der Osthang der in der Eiszeit entstandenen Nienburg-Meppener Geestplatte an die Weser heran, ein beeindruckender Geländesporn. Doch jener beeindruckende Höhenzug wurde NICHT als Raum für das Erdwerk auserwählt, sondern eine relativ unscheinbare Bodenkuppe in der Wesermarsch, an deren Südseite man vermutlich direkt vom Fluß anlanden konnte, zwischenzeitlich ist dieser Weserarm verlandet.

Grafik: Universität Göttingen, Tobias Scholz M.A.

Von der großflächigen Anhöhe wurden seit Jahrzehnten archäologische Funde gemeldet. Kreisbaumeister Ecker fand 1952 ein „sehr schön“ bearbeitetes Feuersteinwerkzeug, Heinz-Dieter Freese 1985 eine querschneidige Pfeilspitze. Außerdem lieferten sechs markierte Fundstellen Keramik aus unterschiedlichen Perioden vom Neolithikum bis zum Mittelalter. Auf einem Luftfoto vom 8. Juli 2009 sehen wir den Südhang des Erdwerkes mit einer Vielzahl an Gruben und Grubenhäusern der römischen Kaiserzeit oder des frühen Mittelalters. Der rote Punkt zeigt die Lage eines Erdwerkstores, das sich jedoch nur unscheinbar im Getreide abzeichnet.

Foto: H.-D. Freese

Neun Jahre später zeigt ein Luftfoto vom 25. Mai 2018 den gleichen Ort aus südöstlicher Richtung. Bei A geben sich erneut die Gruben und Grubenhäuser zu erkennen. Bei B erscheint jetzt ganz deutlich das südwestliche Erdwerkstor. Und tatsächlich schüttelte der Luftbildarchäologe im Vorbeiflug seine Kopf: “Sieht aus wie ein Erdwerkstor? Sachen gibt´s….“

A Gruben und Grubenhäuser der römischen Kaiserzeit oder des frühen Mittelalters. B Südwestliches Erdwerkstor. C Nordwestliches Erdwerkstor mit hölzerner Torkonstruktion. D Geologische Strukturen. Foto: H.-D. Freese

12 Tage später, am 7. Juni 2018 wollte FAN-Mitglied Susanne Brahms einen Kurzfilm für „buten un binnen“ (Radio Bremen) über die aktuelle Luftbildsaison drehen. Man traf sich auf dem Flugplatz Holzbalge; auch der Landesarchäologe Dr. Henning Haßmann reiste dazu aus Hannover an. Solch ein Film lohnt sich nur, wenn zumindest ein (1) wirklich schönes Objekt aus der Luft gezeigt werden kann. Und erfreulicherweise konnte Heinz-Dieter Freese damit dienen: In der Nähe von Liebenau hatte er bereits ein Weizenfeld mit kräftigen Spuren von vorgeschichtlichen Häusern ausfindig gemacht. Bei dem ersten Flug zu diesem Ort steuerte Pilot Jens Schaper die viersitzige Cessna ausnahmsweise vom rechten Sitz, weil nur das linke Fenster zu öffnen war – eine fliegerische Herausforderung. Mit dabei: Heinz-Dieter Freese und auf dem Rücksitz Kameramann Rainer Krause. Die Aufnahmen des Siedlungsbereiches waren schnell im Kasten – gewusst wo!

Anschließend flog Jens Schaper die gleiche Strecke noch einmal mit Susanne Brahms auf dem Rücksitz. Sie sollte den Filmbeitrag ja kommentieren. Nach einer Runde über Liebenau ging es weiter in Richtung Steyerberg, um von dort aus abzudrehen nach Holzbalge.

Foto: H. Haßmann

Und beim Überflug der Ortschaft Wellie fragte Susanne Brahms: „Da links, ist da was?“ Heinz-Dieter Freese folgte ihrem Blick und plötzlich war es da, das Erdwerk! Die bunten Linien im Getreide ergaben plötzlich einen Sinn. Begeisterung im Cockpit – ein jungsteinzeitliches Erdwerk live entdeckt! Natürlich musste Jens Schaper anschließend eine dritte Runde fliegen, um dem Landesarchäologen Henning Haßmann das neueste große Bodendenkmal Niedersachsens zu zeigen.

Foto: H.-D. Freese
Foto: H.-D. Freese
Foto: H.-D. Freese
Foto: H.-D. Freese

Etwa drei Wochen später endete relativ früh im Jahr die Luftbildsaison, weil viele Getreidefelder bereits abgemäht waren. En passant im Vorbeiflug fotografierte Heinz-Dieter Freese am 2. Juli das Erdwerk ein letztes Mal von ferne und entdeckte erst zuhause am PC ein spannendes Detail (weißer Pfeil): Im nordwestlichen Tor zeigte sich ein rechteckiger Umriss als helle Verfärbung im Weizen; ein Einbau, vermutlich aus Holz! Und der Fundamentgraben für diesen „Raum“ ist nach 6000 Jahren deutlich zu sehen!

Foto: H.-D. Freese

Im Leben eines Luftbildarchäologen ist solch ein Fund kaum zu toppen. Wir kennen ähnliche Torbauten aus dem Erdwerk Calden nördlich von Kassel.

Heinz-Dieter Freese reagierte schnell und durchkämmte schon am folgenden späten Abend das Getreidefeld, um den Einbau mit der Hand und Maßband zu vermessen, die Torkammer hat ein Ausmaß von etwa 7 x 1,5 m. Der Martfelder Hausforscher Bernd Kunze dokumentierte den Vorgang mit seiner Drohne und schoss im Abendlicht spektakuläre Aufnahmen. FAN-Mitglied Werner Pollak setzte das Foto anschließend grafisch um.

Foto: B. Kunze
Foto: B. Kunze

Zwischen dem 21. August und dem 4. Dezember 2018 führte FAN-Mitglied Ronald Reimann eine systematische Feldbegehung durch. An 10 Tagen investierte er insgesamt 40,5 Arbeitsstunden. Seine Laufstrecke über den Acker betrug insgesamt 86,9 km. Dabei konnte Ronald Reimann insgesamt 596 Flintartefakte und 230 Keramikfragmente (1,6 kg) auflesen, die bislang noch nicht ausgewertet sind. Schönster Fund ist eine Pfeilspitze, die der Michelsberger Kultur zugerechnet werden kann (lt. H. Haßmann).

Oberflächenfund von Ronald Reimann in der Innenfläche des Erdwerkes von Wellie: Eine flächenretuschierte, langschmale, ungleichschenklig-dreieckige Pfeilspitze mit gerader Basis
(Foto: Ronald Reimann, 2018).

Die letzte Prospektion am Erdwerk Wellie erfolgte im Frühjahr 2019, als Tobias Scholz M.A. im Auftrag der Universität Göttingen mit einer Gruppe Studierender und Freiwilligen des Vereins RAUZWI e.V. eine geomagnetische Prospektion des gesamten Erdwerkes durchführte. Er schrieb dazu: „Auf der Suche nach zeitgleichen Siedlungsplätzen zum nahe gelegenen Gräberfeld von Liebenau/Steyerberg war zufällig bereits 2017 ein Teil der Fläche in Wellie von der Universität Göttingen geomagnetisch prospektiert worden. Das hier erfasste kurze Erdwerksegment lässt sich erst durch die aktuellen Luftbilder richtig einordnen.“ Unter härtesten Witterungsbedingungen entstand nun im Frühjahr 2019 ein komplettes geomagnetisches Bild, welches – im Gegensatz zum Luftfoto – den gesamten Verlauf der Gräben zeigt. Mit einem kleinen Wermutstropfen: Genau dort, wo sich zwei Erdwerkstore andeuten, stört ein moderner Weg die Messfläche. Die Vermessung wurde – bei strömendem Regen und Nordwind – erneut von Susanne Brahms und Rainer Krause für „buten un binnen“ dokumentiert.

Foto: H.-D. Freese
Geomagnetik: Universität Göttingen, Tobias Scholz M.A.
Foto: H.-D. Freese

Die genaue Entstehungszeit des gewaltigen Bauwerkes mit seinem über 900 Meter langen Graben kann ohne einen Grabungsbefund mit bestimmbarer Holzkohle nicht exakt datiert werden, aber der zeitliche Rahmen liegt etwa zwischen 4200 und 3600 v.Chr.

Und ein Bodeneingriff würde sich nach Ansicht von Heinz-Dieter Freese nur lohnen, wenn mit organischen Funden wie Tier- und Menschenknochen gerechnet werden kann. Das ist jedoch aufgrund der Höhenlage und des sandig-kiesigen Bodens höchst unwahrscheinlich.